ICARUS - BRYAN FOGELS TRAUM VOM FLIEGEN
Der Drehbuchautor und Regisseur Bryan Fogel hat einen schönen Plan. Nachdem er bei der „Haute Route“ einen respektablen 14. Platz eingefahren hat, möchte er nun im nächsten Jahr sein Potenzial voll ausschöpfen. Er möchte höher fliegen als der Sohn Dädalus’, aber gleichzeitig muss er natürlich auch irgendwie Geld verdienen. So ersinnt er „Icarus“, eine Art „Supersize Me“ für Radsportler. Mit ihm würde er am eigenen Leibe erfahren, wie es ist, „on the juice“ die Berge hochzufliegen und dabei mit wissenschaftlicher Hilfe alle Tests austricksen. Stoff für einen brisanten Dokumentarfilm also und für Bryan ein klassische Win-win-Situation.
[Dieser Text stammt aus Spoke 5/2017]
Sein erster Ansprechpartner für das geplante Projekt ist der Gründer des Olympic Analytical Laboratory Don Catlin, der viele der heutigen Testmethoden im Kampf gegen das Doping entwickelt hat. Dieser ist, nach anfänglicher Begeisterung, doch etwas skeptisch und verweist Fogel an seinen russischen Kollegen Grigori Rodschenkow, nicht allerdings ohne einen kleinen Seitenhieb auszuteilen, der ahnen lässt, was da kommt. Über die nächsten Wochen und Monate halten Fogel und Rodschenkow über Skype Kontakt und freunden sich an. Fogels Programm läuft gut: Er ballert sich mit Testosteron, Wachstumshormonen und EPO voll, geht fleißig trainieren und verbessert seine Schwellenleistung um erstaunliche 100 Watt. Glanz und Gloria bei der Haute Route scheint nichts mehr im Wege zu stehen.
Doch es kommt gleich an zweierlei Fronten anders: Die ARD-Dokumentation „Geheimsache Doping – wie Russland seine Sieger macht“ von Hajo Seppelt und mit dem Hauptdarsteller (ihr ahnt es) Grigori Rodschenkow lässt alles, was man vorher nur vermuten konnte, zur Gewissheit werden. Der sympathische Kerl mit der unbeschwerten Art, der selten ein T-Shirt trägt und über fundiertes Wissen zur Leistungssteigerung verfügt, ist von Grund auf korrupt. Er versorgt hintenrum russische Sportler mit Dopingmitteln und hilft ihnen, die Tests zu umgehen, während er nach vorne als Aushängeschild des sauberen russischen Sports präsentiert wird. Und mehr noch: Die Spur führt ganz nach oben, zu Putin, zu organisiertem Staatsdoping. An diesem Punkt nimmt der Film eine Wendung und wird zum wahren Politkrimi. Jenseits aller Sympathien, die Fogel offensichtlich für Rudschenkow hegt, wittert er die Chance und verhilft dem Freund zur Flucht in die USA, wo er zum Whistleblower über russische Dopingpraktiken wird.
„Icarus“ lässt Rodschenkow ausgiebig zu Wort kommen. Er berichtet, wie die russischen Behörden mit Hilfe des KGB die „angereicherten“ Blutproben russischer Sportler verschwinden ließen und wie er selbst Sportler vor gepantschten Präparaten schützte. Doping scheint für ihn ein unbestreitbarer Fakt. Das man es tut, ist klar, und was wir „Ethik“ und „Moral“ nennen, kommt in seiner Denke nicht vor. So verwundert es fast, dass Rodschenkow in diesem Film trotzdem sehr gut wegkommt. Doch die Meinung des Autors scheint klar: Schlimmer als die irgendwie sehr trockene, fatalistische Vorgehensweise dieses Rads in Putins Getriebe ist die verlogene Maske des IOC und allen voran dessen Präsidenten Thomas Bach, der immer wieder mit seiner Aufforderung „be clean“ eingeblendet wird, aber im Hintergrund seine schützende Hand über das russische Dopingsystem hält.
Fehlt noch der zweite Aspekt, der Fogels Plan schiefgehen lässt: Er geht bei der Haute Route gnadenlos unter. Er bleibt trotz intensiver „Vorbereitung“ weit hinter seiner Vorjahresleistung zurück, wo er das Rennen noch auf Brot und Wasser gefahren ist. Als naiver Radsportler könnte man das leicht als ein Zeichen verstehen, dass wohl doch nicht immer derjenige mit den besten Mitteln gewinnt – auch weil der ganze Aspekt der Leistungssteigerung, des Rennverlaufs und auch der möglichen Nebenwirkungen in all den Verstrickungen in die Weltpolitik verständlicherweise weitgehend unter den Tisch fällt. Aber es ist natürlich gerade diese Wendung, die den Film spannend macht und nicht – wie befürchtet – zur Tirade gegen die dopenden Radsportler werden lässt. „Icarus“ ist aber vor allem die Geschichte, wie ein kleiner Filmemacher in große Politik verwickelt wird, und alleine deswegen schon äußerst sehenswert. Dass irgendwie alles vergiftet ist, wussten wir ja bereits. Wie sehr der Fisch allerdings vom Kopf her stinkt, wird uns hier noch einmal eindringlich vor Augen geführt.
[Dieser Text stammt aus Spoke 5/2017]
Icarus läuft auf netflix.com und wurde gerade für den Oscar nominiert
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