Spoke 35

Spoke 35

Ab dem 7.2.2018 im Handel

Features

SITZWINKEL, TARMAC UND DAS VERDAMMTE LOT

Es wird immer gesagt, die Maschine muss sich dem Fahrer anpassen und nicht andersrum. Ist natürlich Quatsch. Dann würden wir alle Hollandrad fahren. Das System “Rennrad” ist so konzipiert, dass möglichst viel Kraft in den Pedalen landen soll und dabei möglichst wenig im Wind steht. Das erfordert eine gewisse Anpassungsfähigkeit und Flexibilität unsererseits, denn klicken sie ein, die nächsten fünf Stunden bleiben wir gebückt.

Jetzt gibt es allerdings einen Knackpunkt im System. Da die Laufräder immer den gleichen Durchmesser haben, ist das Rad nur begrenzt skalierbar. Willkommen im Kernthema von Bastian Marks, der mit 1,69 Meter Körpergröße zwar nicht zu den größten Menschen der Welt gehört, aber sicherlich auch nicht das untere Ende der Skala markiert. Bastian ist Physiotherapeut von Beruf, sitzt seit 18 Jahren auf dem Rennrad und erfährt am eigenen Leibe wie ungeeignet die gängigen Geometrien und Bike Fitting Methoden für “kleinere” Menschen sind.

Und das ist kein unerhebliches Problem: Aggressiv wird das Rennrad als Modesport besonders für Frauen beworben und gerade die werden dann oft von Radhändlern und Bike Fittern auf zu große Räder gesetzt. Sagt Bastian. Was genau der Knackpunkt ist und wie er vor hat, etwas dagegen zu tun, erklärte er mir an einem verregneten Vormittag bei Kaffee inmitten schöner Räder auf teuren Trainern.

“Es gibt immer mehr Frauen, die Rad fahren, und die meisten sitzen sehr schlecht auf dem Rad. Oft werden die vom Händler genau so hingesetzt: Etwas zu großer Rahmen, Stütze mit Setback, Sattel sehr weit hinten, 70er Vorbau mit drei Spacern drunter, um noch etwas Komfort zu suggerieren, was aerodynamisch natürlich Mist ist. Da kauft man sich für 3000 Euro ein tolles Rad, vertraut dem Händler und wird drauf gesetzt wie ein Depp. Warum? Das möchte ich gerne bekämpfen, mit Logik!” wettert Bastian und schnappt sich einen Zettel, um mir mit einigen Strichen das Kräftesystem anhand der Vektoren auf dem Rad zu verdeutlichen.

“Es gibt in der Physiotherapie das Prinzip von aktiver- und passiver Inhibition und das ist hier maßgeblich. Ein Muskel hat in seiner Mittellänge die meiste Kraft. Wenn ich jetzt als kleiner Mensch durch einen Fehler im alt hergebrachten System zu weit hinter dem Tretlager sitze und zu sehr nach vorne treten muss, arbeiten viele Muskeln, die maßgeblich für den Vortrieb sind, nicht in ihrer optimalen Länge, weil der kurze Oberkörper das Becken mit nach vorne zieht. Das System kippt. Das sieht man gut bei den Profis. Wenn die Jungs anfangen Gas zu geben, selbst die Großen, rutschen alle auf dem Sattel nach vorne. Das tun sie, um die Hüfte zu “öffnen”, also um das Becken nach hinten kippen zu können. Das hat zwei Gründe. Einmal die Muskellängen des Quadrizeps und Gluteus und zum zweiten die des Hüftbeugers, der vom Oberschenkel nach innen an die Wirbelsäule geht und das Bein über den obersten Punkt der Kurbelumdrehung hebt. Wenn man weiter nach vorne rutscht, kann man den Muskeln Raum geben. Aber ist ist kompliziert.”

So weit, so verständlich. Doch wo ist jetzt das spezifische Problem für kleine Menschen? Es stellt sich heraus, dass auf den meisten Rahmen und vor allem in den gängigen Komplettrad-Konfigurationen der Fahrer, je kleiner er wird, desto mehr in eine immer gestrecktere Haltung gezwungen wird. Dies liegt zum einen an den scheinbar omnipräsenten Setback-Sattelstützen aber auch an den weiterhin sehr langen Rahmen mit einem flachen Sitzwinkel. Eine erfreuliche Ausnahme bildet hier der Specialized “Tarmac”, den Bastian oft und gerne als Referenz für Fahrer unter 1,70 Meter anführt: “Der ‘Tarmac’ hat einen sehr steilen Sitzrohr-Winkel und das Oberrohr ist auch sehr kurz. Der Rahmen ist sehr kurz und ich behaupte, in der kompletten Industrie sind die Rahmen zu lang. Da dem natürlich Grenzen gesetzt sind, muss man mit den Winkeln arbeiten. Der Sitzwinkel liegt bei 75,5 Grad und in der 44er Version sogar einen Winkel von 76 Grad. Dieser Winkel ist entscheidend und aus ihm resultiert der Abstand von Sattel zu Lenker und wird beim Rahmenkauf selten beachtet. Es gibt auch andere Hersteller, die bereits gute Winkel bauen, aber wo der Fehler im System liegt, hat glaube ich noch niemand verstanden.” Ein Thema in der Industrie oder sogar in der Vermarktung ist das aber nicht und Specialized sind einer der wenigen Hersteller, die den Sitzwinkel bei kleineren Rahmen steiler gestalten. “Nehmen wir jetzt einen Standard Rahmen mit 73 Grad Sitzwinkel und der Positionierung des Knies mittels Lot senkrecht über die Pedalachse, wie es im klassischen Bike Fitting üblich ist. Das setzt den kleinen Menschen überproportional nach hinten!”

Was uns direkt in die nächste Schlangengrube führt. Das Lot. Es war genau dieses Lot, welches das Knie senkrecht über die Pedalachse positioniert, das Bastis Hinterfragen irgendwann mal ins Rollen gebracht hat. “Das war 2012 oder 13 während meiner Fortbildung zum bikefitter. Der Moment, den so gut wie jeder schon einmal erlebt hat, der ein Bikefitting besucht hat. Der Fitter holt ein Lot heraus, legt es an die Mitte des Knies an und stellt den Nachsitz so ein, dass dieses Lot in die Pedalachse bei waagerecht stehender Kurbel trifft. Dazu die Begründungen: Damit die Kraft senkrecht ins Pedal geht. Und ich dachte nur ‘Hä? Kraft ins Pedal? Welche Kraft?? Die Schwerkraft? Was hat die denn mit dem Drehmoment beim Radfahren zu tun?’ In meiner jetzt bald 10-jährigen täglichen Arbeit als Physiotherapeut konnte ich bisher keine Erklärung für das Ansetzen des Lots finden. Und ich habe schon viel darüber nachgedacht. Heute bin ich mir sicher, das hier der Fehler liegt, unter dem man mit abnehmender Körpergröße zu leiden hat. Ich kann es mittlerweile biomechanisch und anatomisch erklären und bin bereit mit der Industrie zu arbeiten und die kleinen geometrien zu verbessern.“

Aus all diesen Überlegungen ist die Überzeugung gereift, es selber zu machen und so gründete Bastian Anfang diesen Jahres mit seinem langjährigen Freund und Physio-Kollegen Torsten Walter, einem MTB-Spezialisten, “markswalter”, ein Bike Fitting Institut mit der Expertise aus Physio- und manueller Therapie. “Wir sind Physios, wir gucken einfach von einer anderen Seite auf dieses ganze System.” sagt Bastian und erklärt seinen Bike Fitting Ansatz. “Wir gehen da ran, wie wir es seit 10 Jahren als Physiotherapeuten tun. Wenn ein Patient zu mir in die Praxis kommt und mir sein Problem schildert muss ich mir einen Plan zurechtlegen wie ich das Problem löse. Aus Erfahrung kann ich dann sagen, ob ich das Problem vollständig lösen kann oder was ein realistisches Ziel für einen gegebenen Zeitraum ist. Zu Beginn heißt das natürlich erstmal ganz viel Fragen stellen und die individuellen Bedürfnisse herausarbeiten. Und dann schau ich mir das Ganze an und im besten Falle gehen wir einfach mal zusammen fahren. Dann kann ich sehen, wie sich die Position mit der Ermüdung verändert oder wie es sich im Wiegetritt verhält. Dann erkläre ich meine Ideen, verändere einige Parameter und ‘verschreibe’ neuromuskuläres Training, um das beste aus der neuen Position heraus zu holen. Der Sinn von neuromuskulärem Training ist, in sich hinein zu fühlen und sich Bewegungsabläufe und gegebenenfalls Schwächen bewusst zu machen. In dem Moment, wo man um seine Schwächen weiß, trainiert man sie automatisch. Solche Prozesse und Analysen bekommt man nicht hin, wenn man den Fahrer nur einmal sieht. Das ist ja bei einem Patienten in der Physiotherapie genauso. In der ersten Behandlung machen wir die Anamnese und ich fange an, mal etwas hinein zu fühlen und nach ein paar Sitzungen verfeinert man den Plan. Ich schaue mir an, wenn ich da habe, was der kann, was er will und wie wir da hin kommen. Hier lässt sich kein allgemeiner Fahrplan festlegen, das muss individuell und anhand meiner Erfahrung gestaltet werden.”

Somit können natürlich auch FahrerInnen, die schlecht sitzen aber keine vierstelligen Beträge für einen neuen Rahmen ausgeben wollen, in ihrer Koordination geschult werden. Dann geht es darum, in einem Setting, das mit dem vorhandenen Material umgesetzt werden kann, den Tritt zu verbessern. Wenn jemand schon sehr beweglich ist, muss man ihm das bewusst machen. Wenn nicht, spricht man über entsprechende Dehnübungen, um eine bessere Position auf dem Rad einzunehmen. Diese “Umbauphasen” dauern natürlich. “Bändern und Sehnen anpassen zu wollen, bedarf bestimmt sechs Wochen Arbeit. Das macht natürlich streng genommen keinen Sinn, aber wenn das Material es nicht anders erlaubt, muss man so vorgehen. Oft kommen die Leute ja mit zu großen Rahmen, die selbst in der ‘passenden’ Größe noch suboptimal wären. Da muss man dann rausholen, was geht. Da versagen selbst ‘The Rules’!” lacht Bastian. So ein Rad soll ja auch immer anständig aussehen.

Bastian sitzt mittlerweile mit seinem Cannondale auf der Rolle und betont, dass er selber fast alle drei Tage eine andere Position fährt. Der Beruf des Bike Fitters ist kein Ausbildungsberuf. Das kann genauso ein Radmechaniker sein, der einen Drei-Tages-Kurs absolviert hat. Meistens werden simple Regeln angewendet, deren Ursprung nicht mehr hinterfragt werden. Doch das genau tut Bastian, auch aus der eigenen Not heraus. “Ich hatte schon immer das Gefühl, ich sitze komisch. Während meines Fitting-Kurses habe ich festgestellt, dass es Regeln gibt, die einfach sinnlos sind. Danach habe ich das System überdacht, besonders für kleine Geometrien. Aus anatomischer Sicht kann ich das mittlerweile auch erklären. Perfekt kann man nie sein, aber zumindest bringt mir der Beruf des Physiotherapeuten die nötige Empathie um herauszufinden, was der Mensch will und was er gewillt ist, dafür zu leisten. Dabei ist es egal, ob einer in die aggressivste Rennposition will oder einfach nur am Wochenende beschwerdefrei Rad fahren.”

Mehr Info: 
http://markswalter.de/
https://www.instagram.com/markswalter_bikefit/

 


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