Spoke 35

Spoke 35

Ab dem 7.2.2018 im Handel

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ALLES FÜR DEN DACKEL, ALLES FÜR DEN CLUB!

Ein völlig subjektiver Blick auf den Radsport im Verein.

[Dieser Text stammt aus Spoke 35 - jetzt im Handel]

Spätestens seit Hausmeister Krauses lautstark herausgeschmettertem Credo des Dackelvereins kann man in Deutschland das Wort Verein fast nur noch hinter vorgehaltener Hand nuscheln, wenn man nicht gerade einen Ruf als Prototyp des deutschen Spießertums riskieren möchte.

Gerade im Radsport gibt es viele Gruppierungen, die sich demonstrativ vom klassischen eingetragenen Verein abgrenzen. Auch als Nichtvereinsmitglied hat man schließlich als Radsportlerin und Radsportler vielfältige Möglichkeiten, sich sportlich bis wettkampforientiert zu betätigen. In wohl jeder Region gibt es offene Treffs, wo sich niemand vor Abfahrt einen Mitgliedsausweis zeigen lässt. Jedermannrennen, Rennserien und Etappenfahrten haben sich deutschlandweit und international etabliert, auf RTFs kann man überall gegen einen kleinen Obolus teilnehmen. Man kann also Radsport durchaus ohne Verein betreiben.

Nicht selten läuft es aber so: Man fährt in der Anfangszeit viel allein und dann mit neuen Freunden und Bekannten, die man etwa auf RTFs oder in Facebookgruppen kennengelernt hat. Das Durchschnittstempo wird höher, es wird immer häufiger geballert und die Ambitionen nehmen zu. Man “gewinnt” so manche RTF und erntet anerkennende Sprüche für das vorgelegte Tempo. Irgendwann entscheidet man, bei einem Jedermannrennen als Team anzutreten und gibt sich dafür einen mehr oder weniger originellen Teamnamen, entwirft und produziert ein individuelles Trikot und – ganz wichtig – betont weiterhin nachdrücklich, man sei total locker als Gruppe unterwegs, ohne diesen typischen Vereinskram. Das geht meist eine Zeitlang gut, bis Jedermannrennen auf Dauer zu teuer, wegen der ganzen Anfänger in Block A zu gefährlich oder zu uninteressant werden. Dann überlegen sich die Heißdüsen des „Teams“, man könne ja mal so richtig Rennen fahren. Lizenzrennen, kurzer Einstieg in die C-Klasse, schnell aufsteigen und im klassischen Radrennzirkus mitmischen. Spätestens dann ist sie da, die Vereinsfrage. Sie kann jeden treffen. Selbst die coolsten unter denen, die neben dem Mainstream völlig independent einfach Radsport betreiben wollen.

Was tun? Tritt man irgendwo geschlossen ein, sucht sich jeder einen Verein oder gründet man gar selbst einen? Letzteres erscheint schnell erste Wahl, da in der Regel kein Verein in Summe die Vorstellungen aller Teamfahrer abdeckt. Spätestens die Frage, ob man denn dann noch im eigenen Teamkit unterwegs sein kann oder das Trikot eines bestehenden Vereins tragen muss, spielt zumindest emotional eine entscheidende Rolle. Das käme ja der Assimilierung durchs Kollektiv gleich und überhaupt: Will man wirklich als rollende Litfaßsäule für den Radladen des zweiten Vorstands unterwegs sein und damit ein großes Stück seiner Teamidentität aufgeben? Dann doch lieber selber machen.

Warum auch nicht? Eine Vereinsgründung mutet zunächst einmal einfach an. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland formuliert nämlich in Art. 9 (1) kurz und knapp: „Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.“ Okay, man benötigt mindestens sieben Personen, Vereinszweck und Satzung, muss die entsprechenden Vereinsorgane wählen, sich im Vereinsregister eintragen lassen (was natürlich auch etwas Geld kostet, weil ja ein Notar drüberschauen muss) und füllt gefühlt tausende Seiten von Formularen aus. Alles, was man von der Gründung bis zur Liquidation wissen muss, ist im Bürgerlichen Gesetzbuch in den Paragraphen 21 bis 79 geregelt. Alles, was man falsch machen kann, erfährt man quasi automatisch und sukzessive nach der Gründung von Notaren, Finanzbeamten, Verbandsvertretern und erfahrenen Vereinsmeiern. Aber das sind alles keine unüberwindbaren Hürden und sie gefährden praktischerweise auch nicht den Zusammenhalt des Teams, schließlich formalisiert es in dem Moment nur das, was de facto sowieso schon vorhanden ist. Eine soziale Gemeinschaft mit gleich gelagerten Interessen und größtmöglichem Identifikationspotenzial.

Für sich betrachtet, ist das nachvollziehbar und völlig in Ordnung. Ich muss das an dieser Stelle so schreiben, denn wir haben als Team von 2004 an eine ähnliche Entwicklung durchgemacht. Sie führte 2011 zur Vereinsgründung. Davor war unser Motto bezeichnenderweise: „Wir sind kein Verein.“ Allein im Rheinland fallen mir ein halbes Dutzend ähnlicher Beispiele ein. Alles mittlerweile etablierte Vereine, die aber vor nicht allzu langer Zeit ihre Ursprünge als Thekenmannschaften oder Hobbyteams hatten. Heute weisen sie als eingetragen Vereine nennenswerte Mitgliedszahlen jenseits der 50 Personen vor.

Die Mitgliederzahlen der Radsportverbände laufen unter anderem durch diese Entwicklung überwiegend stabil, aber die Anzahl der Vereine unterliegt kontinuierlichen, regional unterschiedlichen Schwankungen und die Vereinslandschaft insgesamt verändert sich. Während alteingesessene Radsportvereine teilweise Schwierigkeiten haben, die gesetzlichen Vorschriften zu erfüllen, ihre Finanzen in Ordnung zu halten, eigene Gremien zu besetzen und den Rennbetrieb aufrechtzuerhalten, erfahren die lockereren „Spaßvereine“ regen Zulauf. Die klassische Vereinslaufbahn, in der Kinder gemäß ihrer Vorlieben und Talenten bzw. der Vorstellung der Eltern – nicht selten basieren sie auf eigenen geplatzten Karriereträume – in einem Sportverein mit Jugendabteilung angemeldet, gemeinsam mit anderen Kindern von Trainern auf Wettkämpfe vorbereitet wurden und dort auch nach Berufseintritt oder ähnlichem als Breitensportler Mitglied blieben, findet man immer seltener. Gleichzeitig hört man aus Traditionsvereinen regelrechte Schauergeschichten von Generationskämpfen greiser Vorstände, die nicht loslassen können, engagierte jüngere Leute wegmobben und alles einfach nur so weitermachen wollen wie bisher. Ob es jetzt stimmt oder überspitzt dargestellt ist, mussten etwa in NRW viele Vereine den bitteren Weg in die Liquidation gehen oder sich in eine Fusion mit einem anderen Verein retten.

Viele Radsportler sind heute sportliche Späteinsteiger jenseits der 30 mit entsprechender sportlicher Vorbelastung. Häufig schließt der Gürtel nicht mehr im letzten Loch, die Knie sind vom Laufen oder vom Fußball kaputt oder man muss sich einfach mal wieder mehr bewegen. Sie haben bereits – nach eigener Einschätzung – ein schönes Rad und stylishe Klamotten gekauft sowie erste Erfahrungen beim Fahren in verschiedenen Gruppen gesammelt. Kurz gesagt: Sie haben Blut geleckt und wollen mehr!

Du findest deinen Verein oder dein Verein findet dich

Die wenigsten nehmen sich vermutlich in dieser Situation das Vereinsregister und tippen zufällig mit dem Finger auf einen Verein, um dort einzutreten. Sie haben schließlich schon in Material und Optik investiert und ein konkretes Anforderungsprofil zum passenden Verein. Sie informieren sich im Internet und knüpfen in der Regel über den Verein an vorhandene soziale Beziehungen und Netzwerke (Freundschaften, Radtreffs, Trainingsgruppen etc.) an. Sie reduzieren den Verein auf das Ausleben der Gemeinsamkeiten, ohne große Verpflichtungen und zugegebenermaßen ohne eine Überbetonung des satzungsgemäßen Vereinszwecks, nämlich der „Förderung des Radsports und der Jugendarbeit“. Andere suchen gezielt im Internet oder fragen in sozialen Netzwerken nach Empfehlungen. Gerade bei letzterem haben jüngere Vereine oft die Nase vorn, weil es dort in aller Regel Mitglieder gibt, die sich damit auskennen und stark im Internet, bei Facebook, Twitter, Instagram & Co. vertreten sind.

Da Nachwuchs und Neumitglieder nicht mehr automatisch kommen, stellen zeitgemäße Formen der Öffentlichkeitsarbeit eine entscheidende Säule der Mitgliedergewinnung dar. Dafür muss es natürlich Berichtenswertes geben. Regelmäßige Radsporttreffs und Veranstaltungen auf und abseits von Straße, Bahn und Singletrails spielen immer noch die größte Rolle – am besten entsprechend medial bebildert und kommentiert.

Vereine, die stark in ihrer Region vertreten sind, eigene Treffs anbieten und deren Fahrerinnen und Fahrer das Vereinstrikot oft und gerne tragen, generieren ihre Attraktivität aus sich heraus. Man ist präsent, wird auf der Straße oder auf Veranstaltungen angesprochen und der Funke springt über. „Sport ist im Verein am schönsten“, konnte man Interessenten früher zurufen. Heute sollte man das aber schnell noch durch kommunizierbare Mehrwerte wie Versicherungsschutz, Vergünstigungen bei Radsportbekleidung und -material, Zugang zu medizinischer Betreuung wie Sitzpositionsvermessung oder Leistungsdiagnostik und ähnliche Benefits ergänzen. In der Frage „Was bietet ihr denn so?“ lässt sich schon der Wunsch ablesen, dass ein Verein heute einen großen Schuss Wohlfühlfaktor und Erlebniswert (etwa durch gemeinsame Reiseangebote) mitbringen sollte.

Eine Prise Anderssein bis hin zum Ganzanderssein als Prinzip funktionieren daher auch immer gut. Schließlich lässt sich darüber trefflich die Identifikation erhöhen. Aber wenn man ehrlich ist, sind sich selbst all die Vereine, die anders sind, in ihrem Anderssein im Endeffekt doch alle auch wieder recht ähnlich. Wer diesem Schachtelsatz noch folgen konnte, mag vielleicht auch darüber nachdenken, ob seine Vereinsidee nicht so einzigartig ist, dass er es sogar mit künstlicher Verknappung, begrenzten Mitgliedsangeboten oder totaler Exklusivität in Verbindung mit deutlich höheren Mitgliedsbeiträgen versucht. Da wird der Vorstand dann ganz schnell zum Brand Manager. Aber gerade der Radsport mit seiner zahlungskräftigen Klientel bietet genug Beispiele dafür, dass ein solcher Ansatz funktionieren kann: Rundum-sorglos-Pakete gegen klingende Münze funktionieren gut.

Hach, apropos Vorstand. Das klingt ja so oldschool, aber ein entscheidender Punkt ist dennoch gestern wie heute, dass es Kümmerer gibt, die ihr Handwerk beherrschen, Jahresabschlüsse machen, Rechnungen bezahlen, Beiträge eintreiben, Lizenzanträge stellen, Mitgliedermeldungen pünktlich abschicken, mit Verbänden und Organen kommunizieren und die Teamwear rechtzeitig zur neuen Saison bestellen. Sprich, jeder noch so hippe Verein braucht genau wie in Hausmeister Krauses Dackelverein persönliches Engagement in den Vereinsorganen, ansonsten ist ganz schnell Schluss mit lustig. Darüber hinaus ist aber heute das Engagement der Mitglieder gefordert. Sie müssen neben den formalen Gremien als Netzwerk zum Funktionieren und zum Erfolg eines Vereins beitragen, indem sie Aufgaben übernehmen, die den Erfolg eines Vereines steigern – jeder natürlich nach seinen Fähigkeiten und Stärken. Man denke an organisatorische Unterstützung, Klinkenputzen bei Sponsoren, Webdesign, technischen Support, Streckenguide-Einsätze usw. Zu tun gibt es genug.

Quo Vadis, Dackelclub?

Was kann man nun aus diesen Entwicklungen ablesen und wie geht es weiter mit dem guten, alten Radsportverein? Ist der Verein ein Spiegelbild unserer Gesellschaft? Eine Gesellschaft, in der aufgrund einer hohen Arbeitsbelastung viel weniger Zeit für ehrenamtliches Engagement bleibt, in der Kinder und Jugendliche mit hohem Zeit- und Leistungsdruck ihre Schullaufbahn möglichst effizient durchziehen müssen, in der Individualität mindestens den gleichen Stellenwert wie Gemeinschaft haben muss?

Kann sein, aber ich bin kein Freund des „Abgesangs auf die Gesellschaft“. Der Grundgedanke des Vereins mag manchmal altbacken daherkommen, ist meiner Meinung nach jedoch noch lange nicht am Ende. Die Vereinsidee muss nur neu interpretiert und weiterentwickelt werden. Positive Beispiele dafür gibt es in der vielfältigen Vereinswelt genug. Doch es ist auch Auftrag und Herausforderung für die übergeordneten Verbände, diesen Tatsachen ins Auge zu blicken und die Vereine dabei zu unterstützen. Viele Meldeprozesse und Formalien, etwa der Umgang mit Lizenzsportlern beim Vereinswechsel, sind mit gesundem Menschenvorstand und ohne Hilfe von erfahrenen Vereinsmanagern kaum nachzuvollziehen. Hier müsste man dringend ansetzen und es den Vereinen insgesamt einfacher machen. Und eine gewisse Lockerheit im Umgang mit deutschem Formalismus muss man ja selbst im Dackelverein nicht per se schlecht finden.

 

[Dieser Text stammt aus Spoke 35 - jetzt im Handel]

Michael Hokkeler ist Präsident des RTC dasimmerdabei 04 e.V.
http://dasimmerdabei.net